Liedflugschriften

Titelblatt einer Liedflugschrift (Q-8402)

Was sind Liedflugschriften?

Aus der frühen Neuzeit sind uns in Handschriften, „fliegenden Blättern“, Lieder- und Gesangbüchern mit und ohne Noten abertausende von geistlichen und weltlichen Liedern überliefert. Mit dem inzwischen überholten Begriff „fliegende Blätter“ bezeichnete die ältere Forschung Druckwerke geringen Umfangs, die nur eines oder wenige Lieder enthalten. In der Forschung unterscheidet man zwischen Liedflugblättern, also Drucken, die nur aus einem Blatt bestehen, und Liedflugschriften, Heftchen mit einem Umfang von zwei oder mehreren Blättern.

Beide Liedmedien entstanden im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts. Zunächst dominierte bis etwa 1530 das Liedflugblatt, dann überflügelte die Liedflugschrift das Schwestermedium zahlenmäßig bei weitem und entwickelte sich zu einem Massenmedium, das im deutschen Sprachraum bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Gebrauch blieb. 

Obwohl bei diesen ephemeren Drucken von einer hohen Verlustquote auszugehen ist, liegen in zahlreichen Bibliotheken des In- und Auslandes noch große Mengen der kleinen, unscheinbaren und meist wenig beachteten Drucke. Und eben diese schiere „abschreckende“ Menge war wohl der Hauptgrund dafür, dass sich die Liedforschung bislang auch der prioritären Basisaufgabe einer umfassenden Ermittlung und Katalogisierung der Liedflugschriften nicht gestellt hat. Zwar gibt es mit dem VDLied (www.vd-lied.de) seit 10 Jahren ein in dieser Richtung orientiertes Projekt, das sich aber auf die digitalisierten Drucke von bislang lediglich drei Bibliotheken beschränkt (Zentrum für Populäre Kultur und Musik in Freiburg; Staatsbibliothek zu Berlin; Archiv des Österreichischen Volksliedwerkes in Wien). Damit bleibt eine möglichst lückenlose Bestandsaufnahme noch immer ein dringliches Forschungsdesiderat. Seit mehr als 30 Jahren arbeite ich nun an einem solchen Verzeichnis der deutschsprachigen Liedflugschriften der frühen Neuzeit, das alle noch vorhandenen und auch – soweit nachweisbar – die heute verschollenen Liedflugschriften berücksichtigen soll. 

Gegenwärtig sind in dem Verzeichnis ca. 9400 Drucke beschrieben, s. Beitrag Quellenverzeichnis.

Im Folgenden sind einige Aspekte zu den Liedflugschriften aufgelistet, die ich in Zukunft noch weiter auszuführen beabsichtige.

Das Äußere der kleinen Lieddrucke

Wie generell alle Druckwerke in der Handpressenzeit wurden bis ins 19. Jahrhundert auch Liedflugschriften auf Druckbögen gedruckt. Durch Falzung der Bögen ergaben sich die gängigen Buchformate: einmaliges Falzen: Folioformat 2° (2 Blätter oder 4 Seiten), zweimaliges Falzen: Quartformat 4° (4 Blätter oder 8 Seiten), dreimaliges Falzen: Oktavformat 8° (8 Blätter oder 16 Seiten). Das übliche Format der Liedflugschriften war das Oktavformat, Drucke im Quartformat, die gängige Größe von Prosaflugschriften in der frühen Neuzeit, machen bei Liedflugschriften weniger als 15% der Gesamtmenge aus.

Ein Vorteil gegenüber den Lied-Einblattdrucken war, dass der Umfang der Liedflugschriften variabel war. Mehr als der Hälfte der erfassten Drucke bestehen aus 4 Blättern (wobei durchaus nicht selten das letzte Blatt unbedruckt blieb, s. z. B. Q-0221 oder Q-0358). Das bedeutet, dass bei einem Druckvorgang zwei verschiedene Drucke von je 4 Bl. im Oktavformat produziert werden konnten.

Zu unterscheiden sind bei den Lieddrucken jeweils drei Ebenen:

Die sprachliche, die dekorative und die musikalische.

Zur sprachlichen Ebene gehören primär ein oder mehrere Liedtexte und verschiedene Paratexte, von denen die wichtigsten sind: Liedtitel, Tonangaben und das Impressum, bestehend aus Druckort, Drucker und Druckjahr. Nicht immer sind alle diese Bestandteile vorhanden, häufig fehlt z. B. das Druckjahr. Mitunter sind auch Widmungen, Vorbemerkungen, Bibelzitate, Prosatexte, Sprüche etc. vorhanden.

Die musikalische Ebene kann durch beigegebene Noten oder durch sprachliche Hinweise repräsentiert werden. Noten wurden nur höchst selten gedruckt, üblich ist Verweis auf eine bekannte Melodie. DieseTonangaben waren die übliche Form, die Texte singbar zu machen.

Zur dekorativen Ebene gehören Bilder, meist Holzschnitte, und typographische Elemente wie Rubra, Zierstücke, Zierleisten, Titeleinfassungen u.a.m. Auch der Einsatz unterschiedlich großer Texttypen vor allem bei den Titelblättern war ein gern genutztes Gestaltungsmittel. 

Diese drei Ebenen finden sich sowohl bei Liedflugblättern als auch bei Liedflugschriften wieder, aber in unterschiedlicher Weise. Auf den Einblattdrucken sind alle Elemente auf einer Seite versammelt, bei den Liedflugschriften ist der Liedtext in der Regel im Inneren des Druckes platziert, vorgeschaltet ist das Titelblatt, auf dem die wichtigsten Informationen über den Druck versammelt sind.

Das Titelblatt

Das Titelblatt ist sozusagen die Visitenkarte, die den potentiellen Käufer über das Produkt informiert, das er kaufen soll. Es enthält meist mehrere Elemente, die aber nicht immer alle auf dem Titelblatt vertreten sind:

– Inhaltsinformation. 

– Musikalische Information

– Bild und/oder Buchschmuck

– Impressum

Die Inhalte

Die Bandbreite der Liedinhalte der Liedflugschriften ist enorm und spiegelt das Leben in der frühen Neuzeit wider. Liedflugschriften wurden gleichermaßen für weltliche wie für geistliche Lieder genutzt. Im weltlichen Bereich findet man zum einen allgemein bekannte alte Gattungstypen: Balladen, Geschichtserzählungen in Liedform, Liebeslieder; zum andern aber auch zahlreiche Lieder mit aktuellem Bezug. In einer Zeit, als es noch keine periodischen Zeitungen gab, fungierten Lieder häufig als Nachrichtenmedien. Und so wurden politische und militärische Ereignisse, Naturkatastrophen, Himmelserscheinungen, Unglücke, ungewöhnliche Geburten bei Mensch und Tier, Mordgeschichten usw. in Liedform gedruckt und verbreitet. 

Bei den geistlichen Liedern findet man ebenfalls ein breites Spektrum von Inhalten: biblische Stoffe, Psalmlieder, allerlei Lieder für den christlichen Alltag und Lebenswandel, etwa Morgen- und Abendlieder und Lieder speziell für Kinder oder die christliche Unterweisung sowie Lieder zur Bewältigung persönlicher oder allgemeiner Notlagen. In Liedflugschriften wurden häufig Lieder verbreitet, die nicht in den Gesangbüchern standen oder stehen durften, so entstand eine geistliche Liedkultur außerhalb und neben den etablierten Kirchen und Konfessionen. In Zeiten der heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen wurden nicht selten auch polemische Lieder gegen die Andersgläubigen gedruckt, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

Die Musik

– Noten. Nur wenige der Drucke enthalten Noten, nach denen die Lieder gesungen werden können. Meist sind es einstimmige Melodien, aber auch vierstimmige Sätze kommen vor.

– Tonangaben. Die übliche Methode bei notenlosen Drucken war es, auf eine als bekannt vorausgesetzte Melodie zu verweisen. Eine solche „Tonangabe“ genügte, um den Liedtext für die Käufer singbar zu machen, und stellte somit die Verbindung der schriftlichen mit der mündlichen Sphäre her. Dort, in der mündlichen Sphäre, waren erstaunlich viele Melodien bekannt, sie wurden durch Singen weitergegeben, durch Hören gelernt. Fehlte eine solche „Tonangabe“, war das Lied entweder schon allgemein bekannt oder der Liedanfang zitierte ein bekanntes Lied und damit die zugehörige Melodie. Oder die Melodie wurde durch Kolporteure „ausgesungen“ und so mündlich übermittelt. 

Die Tonangaben bilden ein gesondertes und ergiebiges Forschungsfeld: Welche Melodien wurden besonders häufig als Tonangabe benutzt? Hier eine Liste von Liedern, die in Liedflugschriften im Zeitraum 1501-1650 besonders häufig als Tonangaben benutzt wurden (in Klammern Anzahl der Drucke):

  • Kommt her zu mir spricht Gottes Sohn (268)
  • Schiller, Hofton (149)
  • Hilf Gott daß mir gelinge (146)
  • Ich stund an einem Morgen (145)
  • Herzog-Ernst-Ton (132)
  • Graf Serin-Ton (Olmütz-Ton) (128)
  • Es wohnet Lieb bei Liebe (126)
  • Lindenschmidt-Ton (104)
  • Aus tiefer Not schrei ich zu dir (98) 
  • Erhalt uns Herr bei deinem Wort (90)
  • Warum betrübst du dich mein Herz (89)
  • Es geht ein frischer Sommer daher (88)
  • Frauenlob, Später Ton (82)
  • Ewiger Vater im Himmelreich (74)
  • Pavia-Ton (74)
  • Bruder Veiten-Ton (72)
  • Wo Gott der Herr nicht bei uns hält (71)
  • Entlaubet ist (uns) der Walde (64)
  • Venus du und dein Kind (60)
  • Nun freut euch liebe Christen gmein (59)
  • Mag ich Unglück nicht widerstahn (59)
  • Ach Gott vom Himmel sieh darein (58)
  • Innsbruck (O Welt) ich muß dich lassen (58)
  • Benzenauer-Ton (56)
  • Vater unser im Himmelreich (56)
  • Wenn mein Stündlein vorhanden ist (56)
  • Toller-Ton (Ton von Dole) (55)
  • Störtebeker-Ton (54)
  • Es ist gewißlich an der Zeit (52)
  • Es ist das Heil uns kommen her (50)
  • Wilhelmus von Nassauen (50)
  • Wie schön leuchtet der Morgenstern (49)
  • Buchsbaum-Ton (46)
  • Lobt Gott ihr frommen Christen (46)
  • Ich ruf zu dir Herr Jesu Christ (46)
  • St. Jakobslied (46)
  • Was wollen wir aber heben an (45)
  • Wiewohl ich bin ein alter Greis (42)
  • Maria zart (41)
  • Da Jesus an dem Kreuze stund (Die sieben Worte) (40)
  • Christe qui lux es / Christe du bist der helle Tag / Christe der du bist Tag und Licht (39)
  • Die Sonne ist verblichen (35)
  • An Wasserflüssen Babylon (34)
  • Ob ich gleich (schon) arm und elend bin (34)
  • Herzlich tut mich erfreuen (33)
  • Ich armes Maidlein klag mich sehr (32)
  • Es sind doch selig alle die (31)
  • Durch Adams Fall ist ganz verderbt (30)
  • O reicher Gott im Throne (30)

Die Liste zeigt eine bunte Mischung überwiegend geistlicher, aber auch weltlicher Melodien. Dabei sind die Grenzen zwischen diesen Sphären nicht so eindeutig, wie man meinen möchte. So beruht die besonders häufig benutzte Melodie von „Kommt her zu mir spricht Gottes Sohn” (s. Q-4491) auf dem weltlichen Pavia-Ton; das ist nicht der einzige Fall, wo dieselbe Melodie unter verschiedenen Tonnamen erscheint.

Weitere Fragen im Zusammenhang mit den Tonangaben:

Wie ist der Umstand zu werten, dass bei einer Reihe von Liedern doppelte oder mehrfache Tonangaben vorkommen – handelt es sich dabei um verschiedene Melodien oder nur um verschiedene Namen für eine Melodie?

Welche Tonangaben wurden für welche Lieder verwendet?

Inwieweit übernimmt ein neuer Text Elemente des melodieliefernden Liedes (etwa Anfangszeile; weitere wörtliche Entlehnungen; Topoi)?

Welche Melodien wurden für einen langen Zeitraum genutzt, welche waren nur kurzlebig? Woher stammen die Melodien der Tonangaben?

Welche sind auch in Lieder- und Gesangbüchern mit oder ohne Noten vertreten, welche werden singulär im Medium Liedflugschrift überliefert, welche wurden zu Instrumentalfassungen etwa für Laute oder Orgel weiterverarbeitet?

Wie stellt sich das Verhältnis zu der zeitgenössischen professionellen höfisch-bürgerlichen Kunstmusik dar? In welcher Richtung und in welchem Maße wanderten die Melodien von der einen in die andere Sphäre?

Produktion und Vertrieb

– Liedverfasser. In den meisten Drucken finden sich keine Namen der Liedverfasser. Vielfach lassen sie sich aber aus anderen Quellen ermitteln. Viele Verfasser sind heute noch bekannt, etwa Martin Luther, Hans Sachs, Johann Rist u.a.m., andere erscheinen nur in diesen Lieddrucken. 

– Drucker. Zu den wichtigsten Akteuren der Liedmedien gehörten die Drucker, die in den kleinen, schnell und günstig herzustellenden Drucken eine willkommene Einnahmequelle sahen.  Es gab in Nürnberg, Augsburg, Basel, Straßburg und anderen Städten Druckereien, die sich über Generationen hinweg regelrecht auf den Druck der kleinen Liedmedien spezialisierten. 

– Kolporteure. Wenn die Drucker nicht selbst für den Vertrieb sorgten, etwa in eigenen Verkaufsstellen, übernahmen das meistens Kolporteure, die auf Märkten, in Wirtshäusern, bei Kirchen, auf Fahrten über Land usw. die Lieder „aussangen“ und die Drucke verkauften. Daraus entwickelte sich dann auch der Bänkelsang, der bis in die Neuzeit vor allem auf Jahrmärkten zu finden war.